Erinnerst du dich noch an das Projekt I-opener aus dem Jahr 2022? In den letzten vier Jahren hat sich viel getan – sowohl für das Projekt als auch für den Menschen dahinter: den Gründer und künstlerischen Leiter Oliver Juan. Wir haben mit ihm über “I-opener: Mensch und Natur in Zeiten der Einsamkeit” gesprochen, die neueste und bisher größte Ausstellung des Kollektivs, die nach einem Jahr intensiver Arbeit entstanden ist. Und in diesem Interview erfährst du auch, was wir dir beim letzten Mal noch als Überraschung vorenthalten haben!
Was ist in den letzten vier Jahren passiert?
Eine Menge! I-opener wurde offiziell als gemeinnützige NGO in Berlin anerkannt, mit einem engagierten Team aus Künstler*innen und administrativen Mitarbeitenden. In den letzten vier Jahren haben wir gemeinsam mit der Kuratorin Zuleykha Ibad mehrere Wanderausstellungen organisiert, darunter auch jene in Budapest 2022. Insgesamt fanden neun Veranstaltungen in Ungarn, Georgien, den USA und Deutschland statt, die Kunst und Wissenschaft zusammenbrachten. Das neueste Projekt ist unsere kommende Ausstellung, die vom 13. bis 20. Dezember 2025 stattfinden wird. Diese widmet sich gezielt dem Thema Mensch und Natur in Zeiten der Einsamkeit und knüpft gleichzeitig an unsere früheren Themen an. Teilweise gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung umfasst sie verschiedene Kunstwerke und eine partizipative Videoinstallation, bei der ich Regie führe. Sowohl das NGO als auch die Ausstellung entwickeln sich stetig weiter und bauen stark auf unseren bisherigen Erfahrungen auf.
2022 haben wir über Empathie gesprochen. Warum geht es jetzt um Einsamkeit?
Ich habe zwei Antworten auf diese Frage: eine sachliche und eine persönliche. Zuerst die sachliche: Heute wird viel darüber gesprochen, wie Technologie zur Manipulation oder sogar zur Versklavung genutzt wird. Viele Menschen erleben Einsamkeit – und ich meine hier nicht die gewählte Zurückgezogenheit, wie sie etwa Künstler*innen für ihre Arbeit brauchen, sondern einen Zustand, der sich der eigenen Kontrolle entzieht. Menschen wollen sich mit anderen verbinden, können es aber nicht – aus einer Mischung aus gesellschaftlichen und individuellen Gründen. Sie erleben FOMO, Frustration, Angst, Versagensgefühle, weil sie nicht in ein produktivistisches Denken passen oder es sogar bewusst ablehnen. Wir argumentieren, dass dieses Gefühl direkt mit Ökologie und der Entfremdung vom eigenen Ökosystem zusammenhängt. Manche Menschen sehnen sich danach, wieder anzuknüpfen – sei es an ihre natürliche Umgebung oder an engagierte Gemeinschaften.
Die persönliche Antwort: Ich habe meinen Fokus von Dynamiken in sozialen Beziehungen (Empathie) hin zu Dynamiken in der Beziehung zu uns selbst (Einsamkeit) verschoben. Mich hat schon länger interessiert, wie wir Empathie für andere Generationen von Menschen oder für Tiere empfinden können. Dabei habe ich nach Paradoxien gesucht, etwa wie Empathie davon abhängt, ob wir konkret in das Leben anderer eingreifen können. Oder wie wir mitfühlen mit einem Baby oder einem Panda – aber nicht mit einer Qualle. In unseren sechs Ausstellungen in vier Ländern von 2022 bis 2025 entstand daraus eine Reihe sozialer Experimente, die menschliche Generationen in jeder Vorführung abbildeten.

Ausschnitt aus einer Animation von Eva Jiang in der partizipativen Videoinstallation I-opener: Human-Nature in Times of Loneliness (2025).
Jetzt lebe ich in vollständiger Zurückgezogenheit am Rand des Harzer Naturreservats in Ostdeutschland, mit wenigen jungen Menschen um mich herum. Das erlaubt mir, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren – bringt mich aber auch zum Nachdenken. Diese Erfahrung war eine starke Inspiration, mich dem Thema Einsamkeit zu widmen.
Wie sehr beeinflusst es die Beziehungen zwischen Menschen, dass wir uns immer weiter von unserer natürlichen Umwelt entfernen?
Ich denke dabei oft an eine Idee von Claude Lévi-Strauss. Er beschreibt, dass diese beiden Entwicklungen eng miteinander verbunden sind. Je mehr wir uns von der organischen Natur und unserem „wilden“ inneren Kern lösen und ein Leben voller künstlicher Elemente aufbauen, desto mehr entfernen wir uns auch von anderen Menschen. Es ist, als ob wir einen Teil von uns selbst abspalten und damit unsere eigene Ganzheit zerstören. Natürlich betrifft das nicht alle Gesellschaften. Manche leben noch eng mit natürlichen Zyklen verbunden und bewahren Wissen, das aus der Natur stammt. Aber in unseren industrialisierten Gesellschaften ist das leider selten. Manchmal glauben wir sogar, wir seien nicht Teil der Natur – aber das sind wir. Wir halten uns für besonders, wegen unseres großen Gehirns – aber eigentlich sind wir es nicht.

Benjamin Claux – Auszug aus Apocalypse Now? Meteoritenscans, die im französischen Forschungszentrum CNRS aufgenommen wurden, verschmelzen zu einer spekulativen Landschaft und hinterfragen, wie wissenschaftliche Bilder unsere ökologische Vorstellungskraft prägen.
Viele Menschen vertreten eine stark menschzentrierte Sicht und sagen, nur wir Menschen könnten unsere Umwelt zerstören und uns dadurch selbst ausrotten. Doch auch das stimmt nicht. Es gibt Tiere, die ebenfalls ihre Umwelt zerstören und damit ihre eigene Zukunft gefährden. Ein Beispiel ist der Langschwanzmakak in Thailand, der Muscheln mit Steinen aufschlägt, bis die Muschelbestände einbrechen – und damit seine eigene Nahrung bedroht. Oder die Rentiere in Alaska, deren Population von 6000 auf etwa 50 fiel, weil sie über ihre ökologischen Grenzen hinaus wuchsen. Diese Beispiele zeigen wir auch in unserer Videoinstallation. Sie sind Teil einer bewusst provokativen Haltung, die uns Menschen auffordert, uns in diesen Tieren wiederzuerkennen. Wir sind nicht so einzigartig oder anders, wie wir oft glauben.
Wie nutzt ihr Kunst, um diese Botschaft zu vermitteln?
In unserem letzten Interview bat ich dich, einen großen Spoiler nicht aufzuschreiben – dieses Mal dürfen wir es. 2022 führten wir eine interaktive Videoinstallation durch, bei der Besucherinnen heimlich gefilmt wurden. Ihre emotionalen Reaktionen wurden anschließend der nächsten „Generation“ von Besucher*innen gezeigt, deren Reaktionen wiederum der nächsten Gruppe gezeigt wurden – und so weiter. So entstand eine Kette, an der über 700 Menschen beteiligt waren, und die sich bis heute weiterentwickelt.
Ein ähnliches Prinzip nutzen wir auch diesmal, aber mit einer anderen Methode: weniger visuell, dafür textbasiert. Die Besucherinnen erhalten einen Test mit verschiedenen Quizfragen. Zuerst ganz einfache: Bilder von Skeletten, Hautstrukturen und ähnlichem, bei denen sie auswählen sollen, was davon menschlich ist. Später werden die Fragen abstrakter, zum Beispiel zur Goldenen Zahl, die sowohl in Pflanzen als auch in der Kunst vorkommt. Beim Ausfüllen merken die Besucher*innen, wie schwer solche Ja-Nein-Entscheidungen eigentlich sind – und wie schnell wir andere beurteilen, während wir unsere eigenen Verzerrungen kaum wahrnehmen.
Dieses wissenschaftlich fundierte, edukative und partizipative Format wäre schon ohne Wendung spannend. Aber es gibt eine: Die Antworten der vorherigen Teilnehmer*innen liegen unter einer Schicht Transparentpapier – man sieht sie also automatisch. Vielleicht übernimmt jemand die Antwort, wenn er oder sie unsicher ist. Vielleicht ärgert sich jemand, wenn eine vorherige Antwort offensichtlich falsch ist. Auch das ist eine Metapher: für das, was wir von früheren Generationen übernehmen, bewusst oder unbewusst – kulturell, emotional, gesellschaftlich.
Wie kann ein solch partizipativer Ansatz die Denkweise der Menschen verändern?
Ich glaube, dass Beteiligung und aktive Teilnahme eine echte Inspirationsquelle sein können. Ich kann im Namen aller Künstler*innen bei I-opener sagen: Wir wollen nicht, dass unser Publikum die Werke nur passiv konsumiert. Wir möchten, dass sie sich bewegen, nachdenken, reagieren und selbst Bedeutung aus dem ziehen, was sie erleben. Wie sollen sie sich fühlen? Das ist eine gute Frage. Am stärksten ist der Moment, in dem man merkt, wie sich die eigene Haltung verändert, wenn man mit unseren verschiedenen Medien und Ausdrucksformen konfrontiert wird. Das ist keine reine Unterhaltung, sondern provoziert und fordert heraus. Das steckt auch im Namen: Ich bin das „I“ in I-opener – ich möchte mich engagieren, meine eigene Blase verlassen, mich schwierigen Themen stellen und im Bereich Ökologie handeln. Das erwarte ich auch vom Publikum: dass sie berührt werden, nachdenken, emotional aktiviert werden – beim Betreten des Raumes oder spätestens beim Verlassen.

Clara Juan – Auszug aus „Ontologien“ (2025), eine Zeichenserie, animiert von Eva Jiang. Symbolische Karten illustrieren Descolas vier Ontologien und laden Betrachter*Innen ein, ihre kulturellen Perspektiven auf die Welt zu überdenken.
Diese Ausstellung ist ein Aufruf. Ich möchte etwas gegen die Probleme unserer heutigen Gesellschaft tun und andere dazu einladen, sich dieser Haltung anzuschließen. In der Videoinstallation versuchen wir, Zeit und Raum zusammenzuziehen. Zwei Elemente sind dabei entscheidend:
Der Raum: Wir sind eine Wanderausstellung. Wir wählen bewusst öffentliche und zugängliche Orte statt etablierter Kunstinstitutionen. So treffen Menschen aufeinander, die sich sonst nie begegnen würden.
Die Zeit: Jede Person lässt etwas für die nächste zurück und erhält etwas von denen, die vorher da waren. Dadurch entsteht ein Bild von Generationen auf der Erde.
Warum findet die Ausstellung gerade in Ostdeutschland statt?
Zuerst die persönliche Antwort: Ich entdecke gern neue Orte, deshalb bin ich in meinem Leben schon etwa zwanzigmal innerhalb Europas umgezogen. In Ostdeutschland habe ich vor kurzem die Möglichkeit bekommen, als Nachhaltigkeitsmanager zu arbeiten. Dafür habe ich Berlin verlassen – was viele Menschen um mich herum nicht verstanden haben. Und nun die sachliche Antwort: Ostdeutschland kämpft aktuell stark mit extremistischen Strömungen, vor allem von rechts.
Ich will niemanden für seine Wahl verurteilen, aber man kann schwer ignorieren, dass die Beliebtheit solcher Ideologien viel mit sichtbarer Hilflosigkeit, Frust, Einsamkeit und zerfallenden sozialen Strukturen zu tun hat. Das spiegelt sich auch im Umgang mit der Natur wider. Zu Zeiten des Sozialismus entstanden hier große Monokulturen, die später von invasiven Arten befallen wurden und zusammenbrachen. Heute gibt es viele „Skelettwälder“ – ein starkes, trauriges Bild dafür, was passiert, wenn Natur nur als Ressource betrachtet wird. Die Kluft zwischen den Generationen ist groß, viele junge Menschen verlassen die Region. Auch ich spüre das, obwohl ich freiwillig hier gezogen bin, und verstehe gleichzeitig diejenigen, die ihre Zukunft anderswo sehen.
Wir gestalten die Ausstellung bewusst zweisprachig – Deutsch und Englisch – damit sich auch Menschen mit Migrationshintergrund oder ohne perfekte Deutschkenntnisse willkommen fühlen.

Vincent Jondeau – Ausschnitt aus Verschwinden (2025), animiert von Eva Jiang.
Filmemacher und bildender Künstler Vincent Jondeau erforscht das ökologische Gedächtnis mithilfe von Fotografien und Archivbildern, die den menschlichen Blick dezentrieren.
Eure Schwerpunkte sind Technologie und Ökologie. Ist dieses Verhältnis nicht widersprüchlich? Technologie schadet der Natur doch oft.
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, die moralische Bedeutung von Technologie hängt von ihren Nutzer*innen ab – von ihren Motiven, gesellschaftlichen Strukturen und den dominanten Ideologien. Wir können versuchen, sie so verantwortungsvoll wie möglich zu nutzen. Ich denke dabei wieder an das Beispiel der Makaken: Auch sie nutzen Werkzeuge, und ihr Verhalten kann ihre Umwelt schädigen. Sie sind trotzdem Teil der Natur. Und genau das sind wir auch, wenn wir Technologien wie Fracking nutzen und immer tiefer nach Öl bohren – ein Vergleich, den ich vom französischen Philosophen Gaspard Koenig übernehme.
Es bleiben jedoch viele offene Fragen: Wenn wir über Technologie kommunizieren, fördern wir damit nicht automatisch ihren Einsatz? Wollen Menschen überhaupt mehr Technologie – oder fühlen sie sich dazu gedrängt? Wofür nutzen sie sie? Hilft Technologie dabei, über sich selbst nachzudenken, oder hindert sie uns daran? Diese Fragen greifen wir in der letzten Phase der Ausstellung auf – und was die Besucher*innen dort genau sehen, soll hier wieder mal eine Überraschung bleiben.
Was kann das Publikum abgesehen davon in eurer Ausstellung erwarten?
Neue Kunstwerke in unterschiedlichen Medien, viele davon zum ersten Mal gezeigt. Jedes Werk bezieht sich auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Mensch und Natur – aus Biologie, Sozialwissenschaften oder Geschichte. Auf 240 Quadratmetern präsentieren wir mehrere Multimedia-Installationen, eine Skulptur, Drucke von Zeichnungen und eine interaktive digitale Umgebung.
Dazu kommt ein öffentliches Programm mit fünf Veranstaltungen, darunter Workshops und ein Podiumsgespräch. Wir freuen uns sehr über lokale Partner wie den UNESCO Geopark Harz, der Führungen zu geologischen Besonderheiten rund um den Ausstellungsort anbietet.
Außerdem stellen wir Bildungsmaterialien und Ressourcen bereit, die Besucher*innen helfen sollen, sich mit lokalen Initiativen zu verbinden – besonders geeignet für neugierige Laien und junge Menschen. Die Ausstellung richtet sich an die ganze Familie und lädt ein, mehr über uns selbst und unsere Umwelt zu lernen.
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